[ Pobierz całość w formacie PDF ]
kritik geleistet hat.
Ich halte es für ein Gebot der Vernünftigkeit, bei diesem
wie bei jedem anderen Delikt die Frage cui prodest, »wem
nützt es«, zu stellen. Prozeß und Urteil konstruieren statt
dessen eine Geschichte, in der die Protagonisten eine Art
kollektiven Selbstmord begehen. Das scheint mir nicht
sehr kohärent.
Sicher gibt es im Leben auch inkohärente Geschichten.
Aber der Verdacht auf Inkohärenz scheint mir ein guter
Grund, die Geschichte noch einmal neu zu lesen. Denn so,
wie sie uns erzählt worden ist, kommt sie mir ziemlich zu-
sammengestoppelt vor.
1997
45
Kosovo
Im Dezember 1993 fand in der Sorbonne, veranstaltet von
der neu gegründeten Académie Universelle des Cultures,
ein Kongreß über den Begriff der internationalen Interven-
tion statt. Anwesend waren nicht nur Völkerrechtler, Polito-
logen, Militärs und Politiker, sondern auch Philosophen und
Historiker wie Paul RicSur und Jacques Le Goff, Ärzte oh-
ne Grenzen wie Bernard Kouchner, Vertreter einst verfolg-
ter Minderheiten wie Elie Wiesel, Ariel Dorfmann, Toni
Morrison, und Repressionsopfer verschiedener Diktaturen
wie Leszek Kolakowski, Bronislaw Geremek oder Jorge
Semprún, also kurz gesagt, viele Leute, die den Krieg nicht
mögen, nie gemocht haben und nie wieder haben wollen.
Man scheute sich, Wörter wie Intervention zu benutzen,
die zu sehr nach Einmischung klangen, und zog es vor,
von Hilfe, Unterstützung und »internationaler Aktion« zu
sprechen. Reine Heuchelei? Nein, wenn eine einzelne
Großmacht irgendwo interveniert, um ihre Interessen im
Kampf gegen eine andere Großmacht durchzusetzen wie
in der wilhelminischen »Kanonenbootpolitik« des Deut-
schen Reiches im Kampf gegen Frankreich , ist sie bloß
eine einzelne Großmacht und basta, während auf besagtem
Kongreß von internationaler Gemeinschaft gesprochen
wurde, von einer Gruppe von Ländern, die der Ansicht
sind, daß die Lage an einem bestimmten Punkt auf dem
Globus unerträglich geworden ist, und die daher einzugrei-
fen beschließen, um ein Ende mit etwas zu machen, was
das allgemeine Gewissen als ein Verbrechen bezeichnet.
Aber welche Länder gehören zur internationalen Ge-
meinschaft, und wo sind die Grenzen des allgemeinen
46
Gewissens? Sicher kann man sagen, daß es in jeder Kultur
als böse gilt, Menschen zu töten, allerdings mit bestimm-
ten Einschränkungen. So akzeptieren wir christlichen Eu-
ropäer das Töten von Menschen aus Gründen der Not-
wehr, die Ureinwohner von Mittel- und Südamerika
akzeptierten das rituelle Menschenopfer, und die heutigen
Bewohner der Vereinigten Staaten akzeptieren die Todes-
strafe.
Eine der Schlußfolgerungen jenes überaus selbstquäleri-
schen Kongresses war, intervenieren heiße wie in der
Chirurgie energisch handeln, um ein Übel zu stoppen oder
zu beseitigen. Die Chirurgie will helfen, aber ihre Metho-
den sind gewalttätig. Ist eine internationale Chirurgie er-
laubt? Die gesamte neuzeitliche politische Philosophie
sagt uns, daß der Staat, um einen Krieg aller gegen alle zu
vermeiden, eine bestimmte Gewalt über die einzelnen In-
dividuen ausüben muß. Aber diese Individuen haben einen
Gesellschaftsvertrag unterschrieben. Was geschieht zwi-
schen Staaten, die keinen gemeinsamen Vertrag geschlos-
sen haben?
Für gewöhnlich definiert eine Gemeinschaft, die sich als
Bewahrerin weitverbreiteter Werte sieht (sagen wir: die
demokratischen Länder), die Grenzen dessen, was sie für
nicht tolerierbar hält. Nicht tolerierbar ist es, die Todes-
strafe für Meinungsdelikte zu verhängen. Nicht tolerierbar
ist Völkermord. Nicht tolerierbar ist die Beschneidung von
Mädchen (jedenfalls wenn sie bei uns praktiziert wird).
Deshalb beschließt man, zum Schutze derjenigen einzu-
schreiten, denen ein nicht tolerierbares Übel angetan wird.
Aber es ist klar, daß dieses Übel für uns nicht tolerierbar
ist, nicht für »sie«.
Wer sind wir? Die Christenheit? Nicht notwendigerwei-
se: hochachtbare Christen, wenn auch keine katholischen,
unterstützen Milosevic. Das Dumme ist, daß dieses »Wir«
47
(auch wenn es durch einen Vertrag wie den nordatlanti-
schen definiert wird) ein unpräzises Wir ist. Es ist eine
Gemeinschaft, die sich zu einer Reihe von Werten be-
kennt.
Wenn man also beschließt, auf Basis der Werte einer
Gemeinschaft zu intervenieren, schließt man gleichsam
eine Wette ab: Wir wetten, daß unsere Werte und unser
Sinn für die Grenze zwischen Tolerierbarem und Nichtto-
lerierbarem die richtigen sind. Es handelt sich um eine Art
[ Pobierz całość w formacie PDF ]